Das Rheinprojekt

Seit seinen Studien an der Hochschule Düsseldorf lebt und arbeitet Kaluza als Fotokünstler, Maler und Autor in Düsseldorf. Seine Arbeiten werden seit 1995 in verschiedenen Galerien und Museen, unter anderem in Seoul, Shanghai, Jerusalem, Los Angeles und Berlin ausgestellt. Die von Kaluza verfassten Theaterstücke wurden in Düsseldorf, Berlin und Stuttgart aufgeführt. Im Rahmen seiner fotografischen Arbeiten ist das Rheinprojekt Kaluzas bisher kolossalstes Projekt.

Die Grundidee seiner Fotoprojekte ist, dass das künstlerische Bildkonzept seine Überzeugungskraft erst dann entfalten kann, wenn die Fotografie eine Komplexität erfasst, die mit bloßem Auge nicht wahrgenommen werden könnte. Ähnlich wie ein Gebäude in der Baukunst erst ab einer bestimmten Dimension den vom Erbauer gewünschten Eindruck von Erhabenheit und Repräsentativität beim Betrachter hervorruft. Hier knüpft Kaluzas Rheinprojekt an. Zusammen mit seinem Team hat er den gesamten Rhein von der Quelle im schweizerischen Piz Badus bis zur Mündung in Rotterdam in acht Monaten zu Fuß abgewandert. Alle 70-90 Meter entstand dabei ein Foto des linken Rheinufers, wobei der Abstand stets dem Wahrnehmungsraum entspricht, den das menschliche Auge erfassen kann.Kaluza führt eine bildliche Komprimierung des Rheins als geographisches Phänomen durch und schafft für den Betrachter einen Erlebnisraum, der sich von der geografischen Wirklichkeit abkoppelt – physisch wie visuell. Durch die Verdichtung der 21.449 Einzelbilder zu einem Bild gelingt es ihm, den Gegenstand seiner Fotos auf neue Art sichtbar und erfahrbar zu machen. Würde man alle Aufnahmen auf einer einzigen Linie zeigen, würde ein Fotobalken von 15 Zentimeter Höhe das Abgehen einer Strecke von vier Kilometern abverlangen – in normalem Wandertempo rund 48 Minuten. Da das Wasser bei normaler Fließgeschwindigkeit für die gesamte Länge des Rheins mehrere Tage benötigt, ist die fototechnische Verkleinerung also zugleich eine Komprimierung von Zeit und ermöglicht die Erfahrbarkeit der (Fluss)realität als Ganzes.

Mit seinem Projekt hat Kaluza etwas Neues geschaffen. Vor ihm hat noch niemand das gesamte Rheinufer lückenlos fotografisch dokumentiert. Vor der Entwicklung der digitalen Fotografie wäre ein derartiges Projekt undenkbar gewesen, da nur diese eine fugenlose Präsentation der Aufnahmen in einem einzigen Bildstreifen ermöglicht. Auch die Datenmengen waren vor einigen Jahren schlichtweg nicht zu verarbeiten. Insgesamt 13 Festplatten füllen die Aufnahmen. Regelmäßig mussten tragbare Festplatten von Kaluzas Team abgeholt werden, um die Inhalte auf Festplatten in seinem Atelier zu übertragen. Seine Assistenten benötigten alleine ein Jahr für die Bildbearbeitung.

Entstanden ist am Ender eher eine Art Bühnenbild statt eines klassischen Panoramabild. Kaluza wollte bewusst die Perspektive des Feldherrnhügels und den „Überblick“ im direkten Wortsinn vermeiden und vielmehr durch einen ebenerdigen Standpunkt eine erdige Perspektive einnehmen. Wichtig für den besonderen Charakter der Bildästhetik war auch die fußläufige Bewegung des Fotografen. Gerade die Langsamkeit ermöglicht die Intensität von Wahrnehmung, die das Rheinprojekt wiederspiegelt und erlaubt die Fixierung des Betrachters auf Details wie Kaimauern, Brückenköpfe und Buschwerk. Beinahe beiläufig erfasst das Projekt noch die Veränderungen der Vegetation im Lauf der Jahreszeiten. Dabei sind trübes Regenwetter und Herbstsonne, Industrieanlagen und idyllische Landschaften gleichrangig nebeneinandergestellt. Mit Hilfe der Digitaltechnik schafft Kaluza für die Fotografie das, was vorher der Malerei vorbehalten war: die Perspektive auf das große Ganze.

Matthias Fechter

Henry David Thoreau und Stephan Kaluza:
Wandern und Bestandsaufnahme

Mitte des 19. Jahrhunderts macht sich ein Amerikaner auf den Weg. Es ist Henry David Thoreau. Seine Lebensform des beständigen Querfeldeingehens wird ein zentrales Thema seiner Schriften werden. Einer seiner berühmtesten Aufsätze über das Gehen trägt den Titel „Walking“. Es ist eine Meditation über das Unterwegssein in einer sich unablässig verändernden Welt. Dieses Unterwegssein ist für Thoreau immer eine körperliche und eine geistige Bewegung. Jedes Gehen ist ein Gedanken-Gang. Es ist ein Abrücken von allem Gewohnten und allem Schon-Gewußten hinein in einen möglichst vorurteilsfreien Raum. Es ist ein Kennenlernen durch Begegnung: der neue Raum wird nicht in Besitz genommen; stattdessen wird versucht, dem zu folgen, was man dort vorfindet. Das setzt voraus, daß ich mich auf dieses Abenteuer auch wirklich einlasse: ich muß mit meinen Gedanken da sein, wo mich meine Schritte hintragen. Wenn ich gehe, aber gedanklich am alten Ort bleibe, dann sind Geist und Körper ver-rückt: „In my afternoon walk I would fain forget all my morning occupations and my obligations to society. But it sometimes happens that I cannot easily shake off the village. The thought of some work will run in my head, and I am not where my body is, - I am out of my senses. In my walks I would fain return to my senses. What business have I in the woods, if I am thinking of something out of the woods?” Gehen bedeutet “wieder zu Sinnen kommen.” Unterwegssein macht nur Sinn, wenn die Gedanken die Sinne begleiten und auf sie eingehen.

Aber schon Thoreau hat gesehen, daß diese Form des Querfeldeingehens ständig bedroht ist. Das Wandern hinein in die Wildnis des Noch-nicht-festgestellten wird schwieriger und schwieriger, denn die Menschen beginnen, das Land unter sich aufzuteilen. Die Zäune, die sich dem Wanderer in den Weg stellen, werden immer zahlreicher: „But possibly the day will come when [the landscape] will be partitioned off into so-called pleasure-grounds, in which a few will take a narrow and exclusive pleasure only, - when fences shall be multiplied, and man-traps and other engines invented to confine men to the public road, and walking over the surface of God’s earth shall be construed to mean trespassing on some gentleman’s ground” (W 2038). Thoreau fürchtet den Tag, an dem es nur noch erlaubt sein wird, sich auf und mit den öffentlichen Straßen aufzuhalten. Dann – so ahnt er – dürfen wir nur noch da entlangtrotten, wo andere schon vor uns die Route abgesteckt haben. Als Ab- und Eingrenzungen funktionieren Zäune wie Definitionen: Sie kartographieren und definieren die Landschaft; sie erstellen ein Koordinatensystem. Für Thoreau repräsentieren sie die Denkkategorien der Tradition. Haben sich diese Traditionen aber erst einmal flächendeckend verfestigt, dann werden Freigeister nur noch als Irrläufer diskreditiert, die illegal Grenzen überschreiten. Wer ausschert stört die Sicherheit derer, die es sich auf ihrem Grund und Boden eingerichtet haben.

Thoreau verbindet daher das Abenteuer des Querfeldeingehens mit der amerikanischen Westbewegung. Es ist für ihn ein Aufbruch in das noch nicht Markierte. Jede Ostbewegung – für Thoreau die Aneignung unserer Geschichte – sollte durch eine Westbewegung ergänzt werden: „We go eastward to realize history and study the works of art and literature, retracing the steps of the race; we go westward as into the future, with a spirit of enterprise and adventure“ (W 2039). Solch ein Erkunden des ungesicherten Terrains vergleicht Thoreau insbesondere mit dem Wandern durch die Sümpfe der amerikanischen Wälder. Wer durch einen Sumpf geht, geht auf schwankendem Untergrund. Der Boden selbst ist in Bewegung, er gärt, er ist überaus fruchtbar und fordert zudem die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Wanderers. Einzig auf dieses labile und deshalb für Thoreau heilige Fundament sollten die Menschen bauen: „I enter a swamp as a sacred place, a sanctum sanctorum. There is the strength, the marrow of Nature. The wild wood covers the virgin mould,; and the same soil is good for men and for trees. (...) A township where one primitive forest waves above, while another primitive forest rots below, - such a town is fitted to raise not only corn and potatoes, but poets and philosophers for the coming ages“ (W 2044). Ein Sumpf ist eine Übergangszone: alles, was dort lebt, gedeiht so wunderbar, weil es herauswächst aus dem, was vorher einmal war. Nur wenn das Alte verrottet, kann es der Humus werden, auf dem das Neue wächst. Diese Prozessualität ist für Thoreau eine unhintergehbare Realität. Es gilt für alles, was ist. Wer also unterwegs ist auf unsicherem Terrain, der ist am meisten bei sich, weil er gerade im Begriff ist, auf den neuen Wegen auch sich selbst hinter sich zu lassen.

Thoreau war ein radikaler Individualist: einer, der sich im Geiste der Romantik aufmachte, um bereits Mitte des 19. Jahrhunderts im 20. Jahrhundert anzukommen. Denn ihm war klar, daß es kein Ankommen geben kann: eine Einsicht, die sich erst in der Moderne durchsetzen sollte. Er beschrieb Realität bereits als Prozeß und als prinzipiell Unabgeschlossenes, das nach immer neuen und nur vorläufigen Kartographierungen verlangt. Kartographierungen, die lediglich momentane Aufenthaltswahrscheinlichkeiten angeben.

150 Jahre nach Thoreau macht sich wieder einer auf den Weg. Es ist Stephan Kaluza. Er lebt in einer Zeit, in der die Westbewegung Amerikas nur noch ein Mythos ist, der einem von der Kinoleinwand aus verkauft wird. Die meisten Sümpfe oder Moore in Europa sind trockengelegt. Eine total vernetzte Infrastruktur wird durch einen Schilderwald geordnet, der einem den kürzesten Weg angibt und in beruhigender Kontinuität die Kilometer zum Zielort herunterzählt. Was einen dort erwartet, haben einem Reisebroschüren schon längst erzählt. Das Hotel ist gebucht. Die Auslandsversicherung abgeschlossen. Das digitale Navigationsgerät übernimmt die Führung auf vorgegebenen Routen. Wer sich nicht selbst kümmern will – und viele wollen nicht – der kann sich Reise und Erholung von Tourismusunternehmen professionell verwalten lassen. Ein geglückter Urlaub ist ein Urlaub, der so abläuft, wie es einem vorher versprochen worden ist. Die Erde ist aufgeteilt. Die Zäune stehen.

In dieser postromantischen und mindestens post-postmodernen Zeit geht Kaluza den Rhein entlang – von der Quelle bis zur Mündung. Er geht einen Erkundungsweg in umgekehrter Richtung. Früher benutzte man die Flüsse, um von ihrer Mündung aus ins Landesinnere vorzustoßen. Aber der Fluß, den Kaluza da auf seinem Weg begleitet, ist alles andere als unberührt. Er ist vielmehr zentrales und historisches Element einer Kultur- und Industrielandschaft. Begradigt, befestigt und mit Fahrrinnen versehen ist auch der Rhein eine ständig genutzte Verkehrsader. Als Handelsweg, Hindernis, Grenze und Gemeinsamkeit tausendfach überbrückt ist er Bestandteil von unzähligen Verträgen und Abkommen. Zugleich spiegeln sich Märchen und Legenden in seiner schillernden Oberfläche. Noch heute wartet die sagenumwobene Loreley auf unerfahrene Jünglinge, auf daß sie sich unglücklich von einem Felsen in die Fluten stürzen mögen.

Dementsprechend muß Kaluza auch keine Sümpfe oder Dickichte durchqueren. Er wandert größtenteils über Dämme, Landstraßen und Fußwege. Er benutzt ganz bewußt die vorgefundene Infrastruktur. Steht ihm eine Industrieanlage im Wege, dann marschiert er so lange an deren Außenmauer entlang, bis der Blick auf den Fluß wieder freigegeben wird. Im Bild zeigt sich dann eben nur diese Mauer, hinter der – irgendwo – der Rhein vorbeifließt an Anlegestellen und Verladerampen. Kaluzas Wandern dient somit einer Bestandsaufnahme; wir werden Zeuge einer Inventur, die sich als Panorama präsentiert. Was sehen wir, wenn wir uns im 21. Jahrhundert am Rhein entlang auf den Weg machen? Der Fluß wird abgelichtet als schon immer tausendfach in Besitz genommene Infrastruktur, die in ständiger Bewegung ökonomische, politische, poetische oder andere Austauschprozesse ermöglicht. Ein faszinierender Raum, in dem Zeichen aller Art gemächlich vor sich hin treiben. All das wird von Kaluza dokumentiert, während er auch selber in Bewegung ist. In seinem eigenen Unterwegs-sein folgt er dem, was er vorfindet. In diesem Sinne ist auch Kaluza– ganz wie Thoreau – dazu bereit, sich überraschen zu lassen. Aber anders als Thoreau drängt es Kaluza nicht in einen ungeordneten Raum. Er nimmt stattdessen teil an einer Prozessualität, die sich bereits organisiert hat. Er respektiert die bestehenden Grenzen und geht an ihnen entlang, ohne sie zu verletzen. Aber indem er das tut in aufmerksamer Beharrlichkeit, ermöglicht er uns, einem komplexen Phänomen nachzugehen, das wir ohne ihn nie in dieser Art und Weise in den Blick bekämen. Insofern zeigt er uns das Neue nicht jenseits (Thoreau), sondern innerhalb der etablierten Strukturen.
Kaluza konfrontiert uns mit einer Momentaufnahme, die sich aber offensichtlich im Raum und in der Zeit erstreckt. Wie eine Schriftrolle entwickelt sich der Rhein vor dem Betrachter, dem offensichtlich wird, daß dieses Bild seine eigene Geschichte hat, die es zu verfolgen gilt. Nennen wir solch eine Komposition eine panoramische Prozessualität. Kaluza selbst betont, daß erst durch die Komprimierung der Bildmontage der Rhein in seiner ganzen Erstreckung sichtbar wird. Aber im Gegensatz zu traditionellen Panoramen ist Kaluzas „Rundblick“ immer noch 5000 Meter lang. Nach eigener Aussage ist ihm dabei die Logik zwischen Bildergebnis und Bildherstellung besonders wichtig: das Sichtbare entspricht 1:1 dem menschlichen (Körper-)Vermögen, es zu erfassen. Und dieses Sichtbare zwingt uns dazu – zumindest für eine Strecke von 5000 Metern – den Weg am Bildfluß entlang nachzuvollziehen. Kaluza zwingt uns also dazu, uns selbst auf den Weg zu machen. Denn seine vorläufige Momentaufnahme ist für den Betrachter nur durch einen Wechsel der Standpunkte zu erfassen. Wir können nicht mehr – wie beim traditionellen Panorama – die Szenerie mit einem Blick kontrollieren. Insofern unterstreicht das Werk, daß wir prinzipiell in Bewegung bleiben müssen, da es keine abschließende Perspektive gibt.

Thoreau hatte etwas anderes im Sinn als Kaluza. Thoreaus Westbewegung ist Ausdruck einer radikalen Individualität, die die Infrastruktur der Tradition vollständig hinter sich lassen will. Es ist fraglich, ob uns solche Wege zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch zur Verfügung stehen. Vielleicht war das nie der Fall. Kaluza aber zeigt uns, daß wir das Abenteuer des Neuen, das Abrücken von allem Gewohnten, selbst dann nicht verlieren müssen, wenn wir bestimmte Grenzen nicht überwinden können. Thoreau und Kaluza – die beiden waren anders unterwegs. Aber hätten sie sich über den Weg laufen können, ich bin mir sicher, sie hätten sich verstanden.

Georg Schiller

1 Henry David Thoreau, „Walking“, in: Paul Lauter et al., Hrsg., The Heath Anthology of American Literature, Vol. I (Lexington, Mass.: Heath, 1990) 2035.

 

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